Aktuelle wissenschaftliche erkenntnisse 

Die aktuelle Versorgung neurodermitiskranker Kinder

35,8 % der Frauen und 24,1 % der Männer, d. h. 30 % der erwachsenen Deutschen leiden im Verlauf des Lebens unter einer der Erkrankungen des atopischen Formenkreises, Neurodermitis, Asthma bronchiale oder Heuschnupfen. Allein 2 Millionen Erwachsene und 2.5 Millionen Kinder erkranken innerhalb eines Jahres an Neurodermitis. Fast die Hälfte der der Deutschen leidet im Verlauf des Lebens unter einer Allergie.
Die „allergischen Erkrankungen“ zählen laut RKI zu den Volkskrankheiten. Trotz jahrzehntelangen immensen Forschungsaufwandes gilt die Ursache der Atopie als unbekannt. Wie entwickelt sich diese geheimnisumwitterte „ortlose“ und unvorhersehbare Überempfindlichkeit der Haut und eines Teiles der Schleimhäute?
Die besondere Aufmerksamkeit galt der Neurodermitis, weil bei ihr der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung am unmittelbarsten sichtbar erschien.
Auf der Suche nach der Ursache wurden zahllose Faktoren, Persönlichkeitsmerkmale, Lebensereignisse, Elternpersönlichkeiten, psychischer Stress, Ernährungsgewohnheiten und Umweltfaktoren untersucht, ohne dass man einen einzigen Hinweis gefunden hätte, den man für ihre Entwicklung verantwortlich machen könnte.

Für die deutsche dermatologische Gesellschaft war die Neurodermitis seit jeher eine Hautkrankheit mit altersentsprechender Ausprägung. Die Behandlung beschränkte sich seit Jahrzehnten kaum verändert auf Vermeidungsempfehlungen und die symptomatische Behandlung auf der Haut. Unter dieser medizinischen Versorgung hat sich die Häufigkeit der Neurodermitis allerdings in den letzten 50 Jahren mindestens vervierfacht. Die Epidemiologen meinen, einen Stillstand bei der Prävalenz festgestellt zu haben, was aber auch daran liegen könnte, dass mehr als die Hälfte der erwachsenen PatientInnen der medizinischen Regelversorgung inzwischen den Rücken gekehrt hatten und Rat und Hilfe bei alternativen Anbietern suchen. Ein Heer von ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen, ErnährungsberaterInnen, HeilpraktikerInnen und CoachInnen gehen inzwischen andere Wege. Für keine andere chronische Krankheit werden mehr und unterschiedlichere Medikamente, Behandlungsmethoden und Verfahren angeboten als für die Neurodermitis und für kaum eine andere Krankheit wurden mehr Bücher und Ratgeber geschrieben, ohne dass das alles zu besseren Ergebnissen geführt hätte. Die jährlichen Krankheitskosten lagen vor 20 Jahren im zweistelligen Milliardenbereich. Neuere Erhebungen liegen nicht vor.

Was versteht man eigentlich unter Atopie?

1921 prägten die beiden Mediziner Cooke und Coca den Begriff Atopie (griechisch: ortlos, seltsam, unvorhersehbar) und brachten damit zum Ausdruck, dass es Krankheiten gibt, die offenbar ihren Ursprung nicht in dem Organ, wo sie sich äußern, beispielsweise in der Haut, der Lunge oder der Nase, sondern in der Seele, d. h. im Unterbewusstsein des Menschen haben. Die Annahme, dass es sich bei den Krankheiten des atopischen Formenkreises um psychosomatische Störungen handelt, ist populärwissenschaftlich verbreitet. In der Ursachenforschung der naturwissenschaftlichen Medizin hatte dieser Aspekt aber eher eine nebensächliche Bedeutung. Es sollten hundert Jahre vergehen, bis der Begriff Atopie sinngemäß verstanden wird.
Die sensationelle Entdeckung der Stressreaktion durch den ungarisch-kanadischen Arzt Hans Selye passte ungleich besser in das Weltbild der naturwissenschaftlichen Medizin. In den 1940-er Jahren hatte er nachgewiesen, dass Tier und Mensch auf veränderte Anforderungen mit Hormonausschüttung reagieren. Nach wiederholten ergebnislosen Anpassungsversuchen tritt Erschöpfung ein, der Gestresste wird krank.
Generationen von ForscherInnen machten sich seither auf die Suche nach dem krankmachenden Stress. Dieser Ansatz zog sich wie ein roter Faden durch ein dreiviertel Jahrhundert Ursachenforschung. Man suchte die Ursachen vor allem in der Lebensweise und in der Umwelt: Nahrungsmittel, Nahrungsmittelzusatzstoffe, Körperpflegeprodukte, übermäßige oder zu geringe
Hygiene, Bewegungsmangel, Rauchen und Luftverschmutzung waren die bevorzugten Forschungsobjekte. Im Verdacht standen auch psychische Faktoren: Persönlichkeitsmerkmale, Lebensereignisse und psychische Krankheiten. Da sich atopische Krankheiten schon in der frühen Kindheit entwickeln, standen auch die Eltern im Fokus der Forschung. Dabei war unter anderem die Neigung zur Überfürsorglichkeit aufgefallen, ohne dass sich erklären ließ, warum diese Neigung beispielsweise eine Hautkrankheit auslösen kann. Bis heute wurde kein einziger Stressfaktor nachgewiesen, der unmittelbar zur Entwicklung einer dieser Erkrankungen führen würde. Selbst Erdbeben und Kriege hatten nie zu einer Zunahme der atopischen Krankheiten geführt. In der Medizin gilt die Ursache der Atopie trotz intensiver Forschung bis heute als unbekannt. Nach einer internationalen Studie einigte man sich 2015 darauf, dass Stress die atopischen Krankheiten negativ beeinflussen, „möglicherweise auch deren Entwicklung ungünstig beeinflussen kann“.
Die Atopie gilt seither als genetische Überempfindlichkeit der Haut und der Schleimhäute auf an sich harmlose Substanzen, die mit IgE-vermittelten Allergien einhergehen. Die Behandlung beschränkt sich auf zahlreiche Vermeidungsempfehlungen und rein symptomatisch wirkende, apparative (Bestrahlung) und medikamentöse Behandlungen.
Unter dieser medizinischen Versorgung haben die Erkrankungen des atopischen Formenkreises in einem geradezu atemberaubenden Ausmaß zugenommen. Seit den 1980er haben sie sich vervier- bis versechsfacht.

Erste Hinweise auf die Ursache der Neurodermitis

Im klinischen Alltag war den Ärzten einer norddeutschen Kinder-Fachklinik das Verhalten der Eltern neurodermitiskranker Kinder aufgefallen: Liebevoll den Kindern zugewandt, aber ständig besorgt, den Anforderungen nicht zu genügen, gingen sie auf jede Regung des Kindes ein. Keinen Blick von dem Kind lassend, entging ihnen nicht die geringste Veränderung. Alles erschien ihnen bedrohlich, was leicht zur medizinischen Überversorgung führen konnte. Umso intensiver sich Eltern und ÄrztInnen um das Kind bemühten, desto mehr erregte es sich und die Symptome verschlechterten sich erkennbar.

Die ängstlich-vermeidende Persönlichkeit (ICD-10)
Das Verhalten der Eltern ähnelte der im ICD-10 beschriebenen ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung, die durch Gefühle von Anspannung und Besorgtheit, Unsicherheit und Minderwertigkeit gekennzeichnet ist. Ängstlich-vermeidende Persönlichkeiten verhalten sich für Außenstehende völlig normal und zeigen sogar gewisse charakterliche Stärken. Bei unerwarteten Änderungen oder rasch wechselnden Anforderungen geraten diese Menschen aber unversehens in schwere, länger dauernde Krisen, weswegen sie als „ängstlich – vermeidende Persönlichkeitsstörung“ im ICD 10 aufgeführt werden (F60.6).

Die hochsensible Persönlichkeit „Highly sensitiv person“ (Elaine N. Aron)
Das Verhalten der Eltern neurodermitiskranker Kinder erinnerte aber auch an die Highly sensitive Person (Hochsensibilität), die 1997 von Elaine Aron als Konstrukt der Sensory Processing Sensitivity (SPS) in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt worden war. Aron ging aus eigenem Erleben von einer intensiveren und längeren zentralnervösen Verarbeitung von inneren und äußeren Reizen aus. Unter länger dauernder Anspannung könne das zur psychischen Überreizung führen.

Zwei Studien bestätigen den möglichen kausalen Zusammenhang mit der Atopie:

  1. In einer Pilot-Studie wurden 64 Eltern von Kindern mit atopischer Dermatitis mit dem Hochsensitivitäts-Test (HS-Test), der deutschsprachigen Ausführung der Highly Sensitive Person – Scale, und drei bewährten Persönlichkeits-Tests, dem Gießen-Test (GT), Münchner Persönlichkeitstest (MPT) und im Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R) untersucht. Die atopisch veranlagten Eltern unterschieden sich von den nicht atopisch veranlagten hochsignifikant in ihrer sensorischen Verarbeitungsempfindlichkeit. Man ging davon aus, dass die erhöhte Responsivität der sensitiven Eltern als Co-Faktor für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der atopischen Dermatitis bei den Kindern betrachtet werden kann. 

  2. Im Rahmen einer zweiten Untersuchung mit 305 zufällig ausgewählte Erwachsenen bestätigten sich die Ergebnisse der Pilot-Studie. Die atopisch veranlagten Probanden (AP) unterschieden sich von den nicht atopisch veranlagten (NAP) ebenfalls hochsignifikant. Mithilfe der Logistischen Regressionsanalyse konnte die Abhängigkeit der Krankheitsentwicklung von der Höhe der SPS nachgewiesen werden. Auch die Untersuchung der häufigsten psychischen Störungen zeigte diese Abhängigkeit. Die höchsten SPS-Werte fanden sich bei den Angststörungen. Welche Faktoren Einfluss auf die SPS nehmen, ergab die Analyse der soziobiografischen Angaben. Frauen zeigten signifikant höhere SPS-Werte als Männer, was mit der epidemiologischen Häufigkeitsverteilung der allergischen Krankheiten und der psychischen Störungen übereinstimmt: Allergische Erkrankungen treten bei 37,9 % der Frauen und 28,1 % der Männer auf. Unter Angststörungen leiden 22,6 % der Frauen, aber nur 9,7 % der Männer und 16,4 % der Frauen entwickeln im Vergleich zu 5,0 % der Männer unipolaren Depressionen. Zur Entwicklung von Störungen der Haut, der Schleimhäute und des Immunsystems kommt es schon bei relativ niedrigen SPS-Summenwerten.

Auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse wurde das Konzept einer kombinierten kognitiv-verhaltenstherapeutischen, neuronalen, immuntherapeutischen und topischen Hyposensibilisierung entwickelt. Die mehrjährige Erprobung führte selbst bei schwer betroffenen Kindern mit multiplen, hochgradigen Allergien zu rascheren und nachhaltig besseren Behandlungsergebnissen.

Psychosomatische Aspekte der atopischen Dermatitis 

Warum die Haut der Spiegel der Seele ist

Die Haut prägt das Erscheinungsbild des Menschen und erlaubt Rückschlüsse auf emotionale Vorgänge. Redewendungen wie »unter die Haut gehen«, »aus der Haut fahren«, »sich nicht wohl- fühlen in seiner Haut«, »unangenehm berührt sein« und viele mehr zeigen die enge Beziehung der Haut zum zentralen Nervensystem. Tatsächlich gibt es diese Beziehung bei keinem anderen Organ als bei der Haut. Sie und ein großer Teil der Schleimhäute entstammen entwicklungsgeschichtlich dem artgleichen Zelltyp wie das Nervensystem. Die Haut ist ein Sinnesorgan und trägt damit zum Entstehen der Sinnesempfindungen bei.

Umgekehrt erfolgt die Übertragung der zentralnervösen Erregung auf kein Organ schneller und auf kürzerem Weg als auf die Haut. Das unwillkürliche Erröten, die Schreckensbleiche, die Zornes- oder Schamesröte zusammen mit dem Gesichtsausdruck, der Körperhaltung und den Bewegungen, Teil unserer mehr oder weniger unwillkürlichen Kommunikation mit der Umwelt. Die sichtbaren Reaktionen und Veränderungen der Haut haben also auch soziale Bedeutung. Sie können etwa der sichtbare Ausdruck eines Konflikts sein.

Konflikte, die unter die Haut gehen

Die atopische Dermatitis entwickelt sich nicht wie jahrzehntelang angenommen unter dem Einfluss von akutem Stress, sondern infolge der zunehmenden »Dünnhäutigkeit« vorzugsweise in den Wohlstandsgesellschaften westlicher Prägung, die zunehmend unter dauerhafter Überreizung stehen. Die erhöhte SPS finden wir vor allen unter den 40 Millionen Menschen in der sozialen Mitte. Möglicherweise wächst im Bewusstsein der gebildeten bürgerlichen Mitte das Unbehagen und die Einsicht, dass auch sie von den absehbaren globalen Konflikten nicht verschont bleiben werden. Vor allem die Mütter machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder.